Monatsarchiv: Dezember 2020

Predigt 2. Advent 6.12.20 Ein Schiff wird kommen

„EG 8 Es kommt ein Schiff, geladen …“  6.12.20  Liedpredigt Trautskirchen


Liebe Gemeinde im Advent!


Es ist Advent. 2. Advent. Heute, 6.12.  ist am 2. Advent sogar Nikolaustag. Nikolaus war ein Bischof in Myra in der heutigen Türkei. Er hatte der Legende nach junge Mädchen vor der Prostitution bewahrt, indem er heimlich Geld oder Lebensmittel vor die Wohnungen der verarmten Leute legte. In einer Zeit großer Hungersnot wartet er auf eine Schiffsladung  voller Getreide. Nikolaus wartet auf ein Schiff. Auf wundersame Weise wird der Legende nach ein Schiff tatsächlich kommen und die Not der Menschen beenden.

Wir warten ebenfalls auf ein Schiff. Auf was für ein Schiff wir warten, wird sich noch herausstellen. Jedenfalls zünde ich ein Adventslicht auf diesem Schiff symbolisch an. Dieses Adventslicht steht für all die Hoffnung, die wir haben. Im Alltag vergessen wir manchmal, was wir im Tiefsten uns erhoffen. Unsere Trauer, unsere Traurigkeit, unser Ärger oder manchmal auch der ganz alltägliche Trott lassen unsere menschliche Fähigkeit zum Hoffen leicht einrosten. Darum brauchen wir ab und zu solche besondere Zeiten wie die Adventszeit. Um die Hoffnung in uns wachzuhalten. Um die Hoffnung in uns stark zu machen.

Wir Menschen warten auf ein Schiff, das da kommen soll. Wir Menschen warten und hoffen, solange wir leben.

Ein erstes Lied macht es deutlich. Es ist ein durch und durch weltliches Lied aus der Dreigroschenoper von Berthold Brecht. Es ist das berühmte Lied der Spelunken-Jenny. Die Spelunken-Jenny, auch als Seeräuberjenny bekannt, ist ein Spül- und Zimmermädchen in einem drittklassigen Hotel. Wir hören ihr Lied. Ich lese es vor.

SEERÄUBER-JENNY („DIE DREIGROSCHENOPER“)

Meine Herr’n, heute seh’n sie mich Gläser abwaschen
Und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell.
Und sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel.
Und sie wissen nicht, mit wem Sie reden.

Aber eines Abends wird Geschrei sein am Hafen.
Und man fragt: „Was ist das für ein Geschrei?“
Und man wird mich lächeln seh’n bei meinen Gläsern.
Und man sagt: „Was lächelt die dabei?“
Und ein Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird liegen am Kai.

Und man sagt: „Geh‘ wisch‘ deine Gläser mein Kind“
Und man reicht mir den Penny hin.
Und der Penny wird genommen und das Bett wird gemacht,
Und es wird keiner mehr drin schlafen in dieser Nacht.
Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin.

Denn in dieser Nacht wird ein Getös‘ sein im Hafen
Und man fragt: „Was ist das für ein Getös‘?“
Und man wird mich stehen sehen hinterm Fenster.
Und man sagt: „Was lächelt die so bös?“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird beschiessen die Stadt.

Meine Herr’n, da wird wohl Ihr Lachen aufhören
Denn die Mauern werden fallen hin
Und die Stadt wird gemacht dem Erdboden gleich
Nur ein lumpiges Hotel wird verschont von jedem Streich
Und man fragt: „Wer wohnt Besonderer darin?“

Und in dieser Nacht wird ein Geschrei um das Hotel sein
Wenn man fragt: „Warum wird das Hotel verschont?“
Und man wird mich sehen treten aus der Tür gen‘ Morgen
Und man sagt: „Die hat darin gewohnt?“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird beflaggen den Mast

Und es werden kommen hundert gen‘ Mittag an Land
Und werden in den Schatten treten
Und fangen einen jeglichen aus jeglicher Tür
Und legen ihn in Ketten und bringen vor mir
Und fragen: „Welchen soll’n wir töten?“


Und an diesem Mittag wird es still sein im Hafen
Wenn man fragt, wer wohl sterben muss…
Dann werden Sie mich sagen hören:
„ALLE!“
Und wenn dann der Kopf fällt, sag‘ ich:
„HOPPLA!“
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird entschwinden mit mir…

Writer(s): BRECHT EUGEN BERTHOLD, WEILL KURT Lyrics powered by http://www.musixmatch.com

Die Dreigroschenoper wurde 1931 uraufgeführt. Spelunken-Jenny führt ein Leben, das man eigentlich keinem wünscht, erst recht nicht einem jungen Mädchen, das doch seine Zukunft noch vor sich haben sollte. Die Absteige am Hafen, in der sie arbeitet, ist schäbig, die Gäste, die da ein und ausgehen, Halbkriminelle – und selbst die fühlen sich ihr noch überlegen und behandeln sie wie Dreck. Ein Zimmermädchen in einem „lumpigen Hotel“ – keiner, der sie liebt, keiner, der sie respektiert. Dieses Leben, so jung es ist, scheint in einer Sackgasse gelandet zu sein, die Zukunft ist trostlos vorhersehbar.

Allerdings: Es gibt etwas Besonderes an der Spelunken-Jenny: Sie hat das Hoffen nicht verlernt. Während sie Betten macht und Gläser spült, während sie sich von schlechtgelaunten Gästen herumkommandieren lässt, hängt sie innerlich großen Träumen nach.


Ein Schiff wird kommen, fünfzig Kanonen an Bord, und wird die Stadt in Schutt und Asche legen. Jenny kommt dann endlich zu Recht und Würde. Die „Herren“, die sie jetzt verächtlich behandeln, werden endlich die wahre Größe des kleinen Zimmermädchens erkennen. „Wer wohnt Besonderes darin?“ flüstern sie mit angstvollem Respekt, als die Kanonen das Hotel verschonen. Aber das nützt ihnen nichts, Jenny verordnet ihnen ein blutiges Ende. „Und wenn ein Kopf fällt, ruf ich: Hoppla!“ Sie selbst steht am Ende aufrecht da, das wunderbare Schiff nimmt sie mit und entschwindet mit ihr in die Ferne.

Von einem Schiff träumt das Mädchen. Aus ihrer eigenen tristen Umgebung wird keine Veränderung kommen, das fühlt sie wohl … Ein Schiff kommt von weit her, vom Meer. Ein Schiff kann aus unbekannter Ferne Fremdes, Unbekanntes in die alte, begrenzte Welt bringen. Ein Schiff ist immer ein bisschen von Geheimnissen umweht, es eignet sich als „Traumschiff“. Ein Traumschiff reißt das Zimmermädchen aus seiner trostlosen Welt heraus. Allerdings ist es für die anderen ein Alptraumschiff, dieses Schiff mit 50 Kanonen. Ob es wirklichen Frieden bringt, ist mehr als fraglich.

Ein anderes Lied, ein anderes Schiff. Dieses können wir später selbst besingen, es steht im Gesangbuch unter der Nummer 8.  „Es kommt ein Schiff, geladen…“


Ein geheimnisvolles, rätselhaftes Lied. Ein alter Mystiker hat es geschrieben. Der Sinn der Worte erschließt sich nicht leicht, doch das Bild vom Schiff ist einfach und stark.

Auch dieses Schiff kommt aus weiter Ferne, von noch viel weiter her als das der Spelunken-Jenny. Erkennen kann man das an der „Ladung“. Das Schiff des Mädchens hat 50 Kanonen an Bord, eine äußerst diesseitige Fracht. Das Adventsschiff trägt „Gottes Sohn, der voller Gnaden ist“. Gottes Sohn. Damit ist der Herkunftsort des Schiffes gewissermaßen mit genannt: Es kommt aus der Welt Gottes. Von einem Ort, an dem kein Mensch je gewesen ist. Es kommt aus dem völlig Unbekannten.

Advent – Zeit der Hoffnung. Da stehen wir, so stelle ich mir das vor, zusammen Spelunken-Jenny im Jahr 1931, aber auch mit  Daniel Sudermann, dem Dichter dieses Liedes aus dem Jahr 1626 am Ufer unserer diesseitigen Welt. Wir suchen gemeinsam den Horizont ab, halten gemeinsam Ausschau nach einem Schiff, das aus der Fremde zu uns kommt.


Unser Ufer, das teilen wir in vieler Hinsicht mit der Spelunken-Jenny. Das scheint vielleicht auf den ersten Blick nicht so. Bertolt Brecht hatte die Not und Wirren der 1930iger Jahre im Blick. Viele Deutsche ist es damals schlecht gegangen, waren arbeitslos, ohne Hoffnung. Die ersten Naziträume werden geträumt. Wir wissen, es geht nicht gut aus. Das Schiff ist nicht gekommen oder seine Ladung entpuppt sich als Alptraum.

Wir Trautskirchener sind nicht so arm wie Spelunken-Jenny. Uns Franken geht es nicht so schlecht, uns geht es in Bayern gut. Und überhaupt haben wir in unserem deutschen Landen nur Jammern auf hohen Niveau. Ich sage das trotz Corona und trotz eingeschränktem Weihnachtsfeiern. Denken wir an Zeiten, in denen  Pest und Cholera, Krieg und alltägliche Gewalt wie im Dreißigjährigen Krieg an der Tagesordnung waren, geht es uns wirklich wohlhabend gut.

Aber in unserem wohlhabenden Deutschland gibt es viele Orte und Menschen, denen es an Liebe und Respekt fehlt. Ja mehr noch, wenn ich mir die Hassergüsse und Wutreden auf Querdenkerdemos anschaue, habe ich den Eindruck: Den Menschen fehlt es nicht nur an Liebe, Anstand und Respekt. Den Menschen fehlt es an Hoffnung. Weil sie keine Hoffnungsbilder in sich tragen, kommen in Krisenzeiten wie Corona von außen gesehen, sehr sonderbare Zerrbilder hervor, Verschwörungsmythen, Lügengeschichten, selbstzusammengebastelte Wahrheiten, Worte, die spalten, aber den Menschen keinen Halt und keine Hoffnung geben.


Man muss nicht auf Quersdenkerdemos oder andere irrlichternde Menschen-versammlungen gehen,  um verächtliche und gleichgültige Menschen ohne Hoffnung zu treffen. Dass Liebe fehlt und der Respekt, und auch die Hoffnung im Herzen nicht zu finden ist, das kann man an vielen Orten erleben, auch oder vielleicht gerade an den feineren Adressen. Unsere Welt ist an vielen Stellen ein grauer, trostloser, hoffnungsloser Ort.


Es kommt ein Schiff, geladen…
Mit diesem Adventslied treten wir an das Ufer unserer bekannten Welt. Wir halten Ausschau nach einem Lichtstreif am Horizont. Wir versuchen uns in der Hoffnung, dass aus der Ferne Gottes etwas anderes zu uns kommt, ein fernes Licht, das uns Hoffnung gibt, eine göttliche Freundlichkeit, die wir in unser Herz aufnehmen können.

Es kommt ein Schiff, geladen

bis an sein’ höchsten Bord,

trägt Gottes Sohn voll Gnaden,

des Vaters ewigs Wort.

Geladen ist dieses Schiff anderes als unsere Schiffe der Hoffnung. Statt Kanonen trägt es einen Menschen. Gottes Sohn. Ein Segel bringt das Schiff voran, von dem heißt es: „Das Segel ist die Liebe“. Das Schiff wird vorangetrieben von der Kraft, die bei uns ziemlich oft fehlt.

2. Das Schiff geht still im Triebe,

es trägt ein teure Last;

das Segel ist die Liebe,

der Heilig Geist der Mast.

Im Lied ist es nicht die ganze Zeit Advent. Ganz langsam bringt das Schiff  Gottes Welt näher zu unserem Ufer heran, und schließlich legt es tatsächlich an.

3. Der Anker haft’ auf Erden,

da ist das Schiff am Land.

Das Schiff  ist am Land. Die Verbindung ist hergestellt zwischen den beiden Welten. Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits. Aber wozu? Was fangen wir damit an?

Das Lied deutet die Antworten nur an.

Das Wort will Fleisch uns werden, der Sohn ist uns gesandt. gibt sich für uns verloren;

 Ein von Gott geschickter Sohn, der sich für uns „verloren gibt“. Ein Segel, das die Liebe ist. Ein Anker, der das Schiff in unserer Erde festhält.


Auf dem Segel des kleinen Holzschiffes ist ein Kreuz zu sehen.  Das Segel, das die Liebe ist. Das Christusbild von Oskar Kokoschka ist mir dazu eingefallen. Auf der Seite 812 in unserem Gesangbuch ist es abgedruckt:  „Christus hilft den hungernden Kindern“ heißt es.

Die Kokoschkazeichnung stammt von 1946 und zeigt Christus, der sich von seinem Kreuz herabbeugt und die Hand ausstreckt zu einer Schar von leidenden Kindern. Es sieht aus, als würde er gleich vom Kreuz hinuntersteigen zu ihnen.


Der Anker des Schiffes haftet fest auf Erden. Der Abgesandte aus Gottes Welt steigt aus, mischt sich unter die Leidenden wie die Fröhlichen, teilt ihr Schicksal. Streckt sich vom Kreuz aus und hilft den hungernden Kindern, den Armen und Schwachen dieser Welt.

Das Traumschiff der Spelunken-Jenny ist zum Schluss mit dem Mädchen in weite Ferne verschwunden. Die zerstörte Stadt hat es sich selbst überlassen. Die zerstörte Welt bleibt ohne Hoffnung zurück. 

Anders das Adventsschiff. Der vom Adventsschiff kommt, steigt aus, bleibt bei den Menschen, teilt ihre Not. Jesus lässt sich verspotten wie das Zimmermädchen und die gering geschätzten Armen dieser Welt. Jesus hat teil am einsamen Leben der Alten und Schwachen. All denen ist er nah. Er betrachtet nicht nur wohltätig ihr Schicksal, sondern setzt sich dem selber aus. „Gibt sich für uns verloren“.

Jesus ist auf Erden ausgestiegen und hat Dunkel und Verachtung am eigenen Leib erlebt. Aber er ist darin nicht untergegangen. Im Gegenteil. Er bringt aus seiner Welt etwas Neues ins irdische Grau hinein. Auf der Zeichnung von Kokoschka kann man das sehen: Unter dem Kreuz, die Menschen, die zu ihm hinsehen, die sind nicht geduckt und klein, wie das Zimmermädchen. Eine Hand ist zu ihnen ausgestreckt, sie lächeln, richten sich auf und sehen mit hoffnungsvollen Gesichtern zu ihm. In diesem Moment ist ihre verletzte Würde wiederhergestellt. Aber nicht mit Blut und Kanonen. Sondern mit Gesten der Liebe.

Liebe Adventsgemeinde. Plätzchenduft und Kerzenschein, Geschenkekaufen und Glühwein mit Zimt. Gott sei Dank ist das nicht Advent. Sonst könnten wir wegen Corona nur bedingt Advent feiern. Advent geht aber tiefer. In ihrer tiefsten Schicht ist die Adventszeit eine Zeit, in der wir auf den Grund unsere letzten Hoffnung warten: Ein Schiff wird kommen….

Jetzt ist die Zeit, den Blick über den Alltag hinaus zu heben. Auch über den Horizont von Corona hinaus. Wir können unseren Blick an den Horizont richten. So wie die Spelunken-Jenny das tat. Wir können an Spelunken-Jenny erkennen, wie alptraumhaft unsere Hoffnungen sein werden, wenn wir den Horizont unserer Hoffnung nur auf das Diesseits begrenzen. Jetzt ist die Zeit, sich auf eine andere göttliche Wirklichkeit zu besinnen, die unser Leben zusammenhält. Sie ist nicht fern. Wie ein Schiff aus der Ferne bewegt sie sich auf uns zu. Als Fracht führt sie einen konkreten Menschen mit sich, der zur Liebe besonders begabt ist. Jesus. Er verleiht uns eine eigene Würde, was auch passiert. So hilft er uns, dass wir uns mit den Zuständen am diesseitigen Ufer nicht abfinden – dass wir uns sperren gegen Hoffnungslosigkeit, Verachtung und Lieblosigkeit.

So warten wir auf ein Schiff, wie Nikolaus auf das Schiff mit Getreide, wie Daniel Sudermann mitten im Dreißigjährigen Krieg. So warten auch wir 2020 in unserer Zeit mit unseren Ängsten und Nöten auf ein Schiff, das die Liebe und Hoffnung in unsere Zeit bringt. Möge das Adventlicht dieses Schiffes auch in unseren Herzen brennen. Amen.

Predigt 1. Advent 29.11.2020 Wenn man Sacharja einfach weiterliest…

Sacharja 9, 9-10  29.11.20 Trautskirchen 1. Advent

9 Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 10 Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.

Klingt gut dieser Prophet, wie er sich für Frieden einsetzt.  Auf diesen prophetischen Text geht Tochter Zion zurück, das wir danach singen werden.

Tochter Zion, freue dich!                                             Jauchze laut, Jerusalem!
Sieh, dein König kommt zu dir!
Ja, er kommt, der Friedensfürst.
Tochter Zion, freue dich!
Jauchze laut, Jerusalem!

Aber wissen wir überhaupt, wer da besungen wird? Wer ist diese Tochter Zion?

Tochter Zion steht für Jerusalem.  Gemeint ist das jüdische Volk Israel, zu dem Gott als König kommt.

Wir Christen sind erst mal nicht damit gemeint. In unseren christlichen Traditionen wurde dieser  prophetische Text aus der jüdischen Bibel vereinnahmt. Was wir AT nennen, sagen die jüdischen Gläubigen, das gehört zu unseren heiligen jüdischen Schriften.

Wie so vieles haben wir Christen von dem jüdischen Volk Israel vereinnahmt. Und jedes Jahr hören wir von Jesus, der mit einem Esel in Jerusalem einreitet, so wie es der Prophet Jahrhunderte zuvor vorausgesagt hat.

Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 

Vielleicht hatte Jesus tatsächlich an diese Prophetenstelle in Sacharja gedacht, als er mit einem Esel in Jerusalem einritt.

Der Prophet Sacharja würde sich aber stark darüber wundern, was wir aus seinem Prophetentext gemacht haben. Wir konzentrieren uns weitgehend auf den adventlich adrett geschmückten Bibelvers:

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer

Da kommt schon die erste adventliche Stimmung auf. Der Geschmack von weihnachtlicher Vorfreude. Bald ist Weihnachten, freut euch!

Sacharja hat nicht im geringsten Weihnachten im Blick, als er diese Worte sagt. Und der Prophet wird uns mit Sicherheit auch fremd, wenn wir weiterlesen, wie bei Sacharja der Friedenskönig einzieht:

10Denn ich will die Wagen wegtun aus Ephraim und die Rosse aus Jerusalem, und der Kriegs­bogen soll zerbrochen werden. […] 11Auch lasse ich um des Blutes deines Bundes willen deine Gefangenen frei aus der Grube, in der kein Wasser ist; 12so kehrt heim zur fes­ten Stadt, die ihr auf Hoffnung gefangen liegt. Denn heute verkündige ich, dass ich dir zwei­fach erstatten will. 13Denn ich habe mir Juda zum Bogen gespannt und Ephraim darauf ge­legt und will deine Söhne, Zion, aufbieten gegen deine Söhne, Griechenland, und will dich zum Schwert eines Riesen machen. 14Und der HERR wird über ihnen erscheinen, und seine Pfei­le werden ausfahren wie der Blitz, und Gott der HERR wird die Posaune blasen und wird ein­herfahren in den Stürmen vom Südland. 15Der HERR Zebaoth wird sie schützen, und die Schleu­dersteine werden fressen und niederwerfen und Blut trinken wie Wein und voll davon werden wie die Becken und wie die Ecken des Altars.

Der Friedenskönig, den der Prophet Sacharja verkündet, verschafft auch nur dem eige­nen Volk einen Frieden, genauer einen Gewaltfrieden nach der Niederlage der Gegner. Und da spielt es keine Rolle, ob er auf einem Esel daherreitet oder doch auf einem Schlachtross!

Wir könnten uns als Christen zurücklehnen und arrogant auf den jüdischen Propheten Sacharja herabschauen und sagen: Wussten wir es doch, unser Jesus ist anders. Unser Jesus reitet mit dem Esel ein und verzichtet darauf, mit Macht und Gewalt für Frieden zu sorgen. Aber ich höre von außerhalb unserer Christengemeinden Einwände, die wir hören müssen. Ich höre Außenstehende mit Recht fragen:

Was ist da in eurer christlichen Tradition anders als bei Sacharja? Der Frie­dens­­könig, den die christliche Tradition am 1. Advent und am Palmsonntag feiert, hat seine Anhänger 2000 Jahre nicht zur Ver­­­nunft bringen können: Ketzerprozesse, Religionskriege, Kreuzzüge.  Die Menschenrechte sind im 18. und 19. Jahrhundert gegen den Widerstand der Kirchen durch­gesetzt worden. Und heute?

Denke ich an die evangelikale christliche Bewegung in den USA, von denen nach wie vor 70 Prozent Trump ein zweites Mal gewählt haben, dann schaudere auch ich vor Teilen der heutigen Christenheit. Auch diese evangelikalen Christen heute sind der Versuchung erlegen, auf einen Trump als Gesalbten zu setzen und von ihm gewalttätige Politik im In- und Ausland zu erwarten. Gott sei Dank ist der Gesalbte der Evangelikalen nicht gewählt worden!

Nun sind wir Christen in unseren deutschen Landeskirchen alles andere als gewaltbereite christliche Fanatiker. Gott sei Dank! Wir haben aus unserer Geschichte gelernt. Wir haben aus unserer Kirchengeschichte gelernt, dass Ketzerverfol-gungen, Hexenverbrennungen, Religionskriege, Kreuzzüge einfach etwas abgrundtief Böses war, was sich absolut nicht mit dem Namen Jesu vereinbaren lässt. Wir haben auch aus unserer jüngsten deutschen Geschichte gelernt, dass wir das jüdische Volk für unsere Zwecke nicht vereinnahmen oder gar missbrauchen dürfen.  Es ist gut, wenn wir unsere  Stimme als Christen erheben, wenn das jüdische Naziopfer Anne Frank bei Querdenkerdemos vereinnahmt wird. Es ist gut, wenn wir dagegen protestieren, dass der Judenstern auf solchen Demos missbraucht wird.

Darüber hinaus  befinden wir uns als Christen in Europa auch in einer Umbruchsituation, in der unser christliche Glaube und unsere christlichen Traditionen immer wieder überprüft werden müssen, ob sie den Menschen in der heutigen Zeit noch etwas sagen können.

Unsere Bibeln müssen durchforstet werden. Unsere christlich tradierten Texte sind voll von Feindschaft und einer ra­dikalen Tren­nung in Gute und Böse. Voll von kriegerischen Bildern, voll von Königen und pa­triar­cha­li­schen Despoten, von Herrschern und Feldherrn. Und immer wieder: voll von einem ge­walt­tä­tigen Gottesbild.

Was soll uns diese Vorstellung von Gott als oberstem Herrscher. Wir Europäer haben in einer leidvollen Geschichte die Herrscher abgeschafft! Wir leben in einer Demokratie, in der alle Bürger für die Herrschaft verantwortlich sind. Menschen, die heute an Gott glauben, müssen sich Gott nicht als Alleinherrscher vorstellen. Auch die Vorstellung von Christus als König ist für viele Menschen eine heute schwer verständliche Vorstellung.  Könige sind für viele Figuren aus Märchen. Christus als König ist aber mehr als ein Märchen.

Und noch ein Letztes: Gott, der Allmächtige. Das ist der Gott also, der alles kann, was wir selber so gerne könn­ten. Der Allmächtige, das ist der Gott, der alles so macht, wie wir es uns in unseren Allmachts-Phantasien wün­schen, einer, der alle Gegner besiegt. Wir können in unserer Zeit  lernen, dass Gott anders mächtig ist. Unvorstellbar anders. Durch unsere Bilder nicht einholbar.

Wir befinden uns als Christen in Europa in einer Umbruchssituation. Wir werden uns im Laufe der Zeit von so manchen alten Gottesbildern und Gottesanreden verabschieden, so schwer es auch manchmal fällt. Natürlich sind sie Teil unserer Kultur. Natürlich singen wir das alles in der Kir­chenmusik. Tochter Zion! Ich kann darauf nicht ganz verzichten. Aber wir dürfen den abgrundtiefen Graben nicht zuschütten, der uns gedanklich und objektiv von alten Gottesbildern trennt. Wir müssen uns sehr gut überlegen, wie wir künftig zu religionsfernen Generationen glaubwürdig von Gott sprechen. Jedenfalls nicht als König und Herr, als Herrscher und allmächtiger Pa­tri­arch …

Wenn Jesus Christus mit seinem Leben und Sterben wirklich das Ebenbild Gottes, oder das Vorbild sein soll, dann dürfen wir nicht Bilder der Gewalt und der Herrschaft auf ihn übertragen.

Ich möchte Sie einladen, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um sich auf ihre eigenen Gefühle und Gedanken einzulassen: Wie haben Sie ganz persönlich Gott oder Jesus als Messias, als Heiland, als Gott-für-mich erfahren? In welches Bild können Sie Ihren Glauben kleiden? Welche Namen und Rollen passen zu Jesus?

Meditative Musik  Tochter Zion

Erlauben Sie mir, selber persönlich zu werden.

Gott ist für mich die Quelle meiner Kraft. Ich komme immer wieder in Situationen, die mir meine Grenzen aufzeigen. Ich habe mich nicht selbst gemacht und ich kann nicht alles, was ich will, auch werden oder bleiben.

Gott ist für mich der Freund. Mit ihm kann ich reden, auch wenn ich weiß, dass Gott weit, weit mehr ist als ein Du, eine Person. Gott kann ich ver­trauen und ihm kann ich mich anvertrauen, weil er mich wie ein Freund ermuntert und  auch mal wie ein Freund kritisiert. Aber ich bin nicht sein Knecht. Ich bin sein Freund. Gott lässt mich als seinen Freund mein Leben so leben wie ich will, auch wenn ich dann mal Fehler mache. Und wenn ich Mist gebaut habe, ist Gott als dieser Freund immer noch an meiner Seite. Gott als Freund ist natürlich auch ein Gottesbild.

Ein weiteres Bild: Gott ist für mich parteiisch. Er hat durch Jesu Leben und Sterben gezeigt hat, dass er nicht auf der Seite der Täter ist. Gott steht immer auch Seiten der Schwachen und Armen. Das ist für mich auch Mahnung und Stachel, wenn ich es mir zu gut gehen lasse. Denke an die Armen.

Gott ist für mich letztlich ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das sich nie ganz enthüllt. Was für einen Sinn das Leben hat mit all seinen Niederlagen und Widersprüchlichkeiten wird sich uns erst in der Ewigkeit erschließen.

Gott als Quelle, als Freund, als Parteinehmer für die Armen, Gott als Geheimnis. Fügen Sie ruhig ihr eigenes Gottesbild hinzu. Wer oder was „Gott“ ist, erschließt sich uns dann, wenn wir uns Gott öffnen.

Ich persönlich sage inzwischen Nein zu einem Friedenskönig, der durch Siege regiert.

Nein zu einem Weltbild, das uns zu Untertanen machen will, die von der Herrschaft eines Königs abhängig sind. Nein zu überholten und gewalttätigen Gottesbildern.

Mit dem Nein sage ich aber gleichzeitig Ja zu einem Gott, der Juden und Christen und Muslime und alle Menschen zum Frieden bringen will. Die traditionellen Bilder dieses Friedens können unsere Hoffnung stärken und unsere Aktivität beflügeln.

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer

Diese und andere biblischen Worte können die schlimmen anderen biblischen Ge­schich­ten überstrahlen.

Ich sage Ja zu einem Gott, der sich in Jesus Christus als bedingungslose Liebe gezeigt hat. Die­ser Liebe gilt es – so bruchstückhaft auch unsere Versuche sind – nachzueifern.

Dazu helfe uns der in der Bibel als Jahwe offenbarte Gott, der Gott, der für uns sein will, von dem wir uns kein Bild machen sollen. Der wird uns den Frieden bringen, den wir selber nicht bringen können. Amen.